Kinder- und Jugendhilfe: Wo Grenzgänge zum Alltag gehören

Kinder- und Jugendhilfe: Wo Grenzgänge zum Alltag gehören

»Bilden Sie einen Satz mit den Begriffen ‚Pädagogik‘ und ‚Grenzen‘.« Vor diese Aufgabe gestellt, würden die meisten wohl das Verb »setzen« verwenden. Ruth Scheuvens‘ Antwort fällt komplexer aus. Die Unternehmerin führt einen Träger der Kinder- und Jugendhilfe und rät Erwachsenen, die Grenzen junger Menschen mindestens so ernst zu nehmen wie die eigenen.

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Manche Ereignisse in Ruth Scheuvens‘ Alltag überschreiten die Grenzen des Vorstellbaren. »Gestern ist ein zwei Tage altes Baby in die Klinik eingeliefert worden«, erzählt die Unternehmerin. »Misshandelt von den Eltern.« Ruth Scheuvens ist die Geschäftsführende Gesellschafterin der Systemische Hilfen Niederrhein GmbH & Co. KG (SHN), eines freien Trägers der Kinder- und Jugendhilfe in Moers. Zu den Leistungen zählt es, ein neues Zuhause für Heranwachsende zu finden, die nicht bei den leiblichen Eltern bleiben können. Dazu gehören Zehnjährige, die bereits traumatisiert sind, ebenso wie Neugeborene. »In unserem Beruf muss man solche Geschichten hinter sich lassen können«, sagt Ruth Scheuvens. »Wer dauerhaft mitleidet, gerät in eine Betroffenheitsschleife und das steht guter Arbeit im Weg.«

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Gute sozialpädagogische Arbeit – das bedeutet für Ruth Scheuvens, die Bedürfnisse eines jeden Kindes zum Maßstab zu machen, mitsamt seiner Vorgeschichte und seiner persönlichen Grenzen. Die SHN nehmen sich deshalb neun Monate Zeit, potenzielle Pflegeeltern auszubilden. Diese Elternausbildung gehe emotional und analytisch ähnlich tief wie eine Paar- oder Familientherapie, so Ruth Scheuvens. »Wir rühren an sehr persönliche Belange, indem wir die Rollen innerhalb der Partnerschaft klären und indem wir abklopfen, wie sich künftige Geschwister gegenüber dem Pflegekind verhalten könnten.« Dabei geben die Mitarbeiter klipp und klar zu verstehen, dass gewohnte Strukturen infrage gestellt werden. »Das neue Familienmitglied wird zwangsläufig Konflikte auslösen«, erläutert Ruth Scheuvens. Es sei zum Beispiel normal, dass Kinder Grenzen austesten, indem sie absichtlich die Lieblingsvase umwerfen oder das Auto des Nachbarn zerkratzen. Das gelte umso mehr für »Kinder mit einem Rucksack aus negativen Erfahrungen«, die ergründen möchten, ob sie gewollt sind.

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In 97 Prozent der Fälle führt die Arbeit mit den sogenannten Erziehungsstellen zum Erfolg, berichtet Ruth Scheuvens. Das heißt, die Familien, Lebensgemeinschaften oder Einzelpersonen, die ein Kind aufgenommen haben, bieten auf Dauer die geeignete Umgebung. Das sei alles andere als ein Selbstläufer, so die Unternehmerin, die ihre Karriere als systemische Therapeutin begann und nach Führungspositionen bei freien Trägern zur Gründerin wurde. »Wir beraten die Erziehungsstellen weit über die Vermittlung hinaus und schärfen beispielsweise das Bewusstsein dafür, dass Grenzen setzen und Freiräume zulassen zwei Seiten einer Medaille sind.« Nach Ruth Scheuvens‘ Beobachtung schenken viele Erwachsene Kindern und Jugendlichen heute kaum noch Vertrauen. Junge Menschen wüchsen wie unter einer Käseglocke auf, die kaum Stolz auf eigene Erfolge und Erfahrungen des Scheiterns erlaube. Regelrecht kämpferisch klingt die Unternehmerin, wenn es um Pädagogen geht, die diesem watteweichen Zeitgeist huldigen: »Wenn es bei Fußballturnieren keine Gewinner und keine Verlierer mehr geben darf, endet mein Verständnis. Wann, wenn nicht beim Spielen, sollen sich Kinder auf die Welt vorbereiten, wie sie ist?«

Auf bestimmte Vertreter der eigenen Profession ist Ruth Scheuvens generell nicht gut zu sprechen. Viele freie Träger hätten es sich in einer Blase bequem gemacht, in der ein Gefühl moralischer Überlegenheit herrsche, so die Unternehmerin. »Die wissen ganz genau, was richtig und was falsch ist, und haben für alles eine Lehrbuchmethode parat.« Die Abneigung, das weiß Ruth Scheuvens, ist gegenseitig. Denn aus Sicht der Wettbewerber hat sie eine Grenze übertreten: Statt einen gemeinnützigen Verein zu gründen, wie in der Kinder- und Jugendhilfe üblich, führt die 44-Jährige eine GmbH & Co. KG. Ruth Scheuvens redet offen von freiem Wettbewerb, Umsatz und Gewinn und wirft auch großen, bekannten Trägern Missmanagement vor. »Der Hinweis, sich um besonders schutzbedürftige Menschen zu kümmern, dient als Vehikel, jedes Jahr mehr Steuergelder zu verlangen. Dabei würde es oft reichen, kaufmännisch zu denken und zu handeln.«

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Mit Ruth Scheuvens an der Spitze beweist die Systemische Hilfen Niederrhein GmbH & Co. KG, dass sich eine wirkungsvolle Kinder- und Jugendhilfe sehr wohl mit Unternehmergeist verträgt. Das fange schlicht damit an, die Gesetze zu lesen. Beispiel schulische Hilfen: Das Land Nordrhein-Westfalen hat sich verpflichtet, Kinder mit Behinderung an regulären Schulen zu unterrichten. Autismus oder Blindheit dürfen also kein Grund sein, sie in Sonderschulen abzuschieben. Für die Integration stehe Geld zur Verfügung, um das freie Träger sich bewerben können, so Ruth Scheuvens. Sie sollen entwicklungsbeeinträchtigte Mädchen und Jungen gezielt begleiten und unterstützen. »Und weil wir individuelle Lösungen finden statt wortreich Bedenken vorzutragen, bekommen wir überdurchschnittlich oft den Zuschlag.« Diese Tatsache zeigt sich am Wachstum des Unternehmens: 2011 gegründet, haben die SHN mittlerweile fast 300 Mitarbeiter in Voll- oder Teilzeit, darunter neben Sozial- und Heilpädagogen auch Kinderpfleger und Hebammen. Erst kürzlich hat das Unternehmen eine Zweigstelle mit acht neuen Mitarbeitern eröffnet. Fachkräftemangel? Für Ruth Scheuvens kein Thema. »Wir kosten den Staat nicht mehr Geld als die anderen und können uns trotzdem mehr Urlaub und ganztägige Team-Events leisten«, so die Unternehmerin zu den Gründen. »Außerdem steht immer eine Flasche Sekt kalt – entweder falls ein Mitarbeiter in einer aufwühlenden Situation Zuspruch braucht oder um auf einen Erfolg anzustoßen.«

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